Wie Frau Schulz im Berlin Wonderland zur berühmtesten Politesse Deutschlands wurde

schwarzindien.at-bvg politesse-joachim donathEnde November 1996 sorgt eine ungewöhnliche Pressemitteilung der Berliner Polizeigewerkschaft für Erstaunen. Nahezu leidenschaftlich wird darin ein Werbeplakat der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) gegeißelt. Das Plakat, Hauptmotiv einer Kampagne für ein preiswertes „Shoppingticket“ in der Vorweihnachtszeit, sei eine nicht hinnehmbare Diskreditierung der Polizeiarbeit – noch dazu auf Kosten des Steuerzahlers – und müsse daher unverzüglich aus dem Verkehr gezogen werden.

Das Objekt der Empörung:

schwarzindien-joachim donath-bvg-politesse-poster
Der Aufschrei zeigt Wirkung – allerdings nicht die gewünschte. Ironische Schlagzeilen wie „Miss Marples böser Blick“ oder „Spaß am Einkaufen – und wer ihn verdirbt“ lassen wenig Solidarität mit dem Anliegen der Polizeigewerkschaft erkennen. Im Gegenteil. Presse und Öffentlichkeit zeigen sich weitestgehend einig: Plakat pfiffig – Polizeivertreter humorlos. Selbst die Leser der „Bild“-Zeitung“ votieren mehrheitlich für den Verbleib der „fiesen Politesse“. Bedingt gelassen äußert sich eine echte Politesse: „Das ist eben nur Werbung. Meinetwegen hätten die auch ein Schwein abbilden können.“

Das Plakat bleibt hängen und die BVG freut sich über die kostenlose Zusatzwerbung. Doch damit nicht genug. Nach einem Bericht im ZDF zur besten Sendezeit schmunzelt ganz Deutschland über den vermeintlichen Skandal.

In den Mittelpunkt des Interesses rückt die Hauptdarstellerin. Miss Marples, die fiese Politesse, die derart überzeugend wie folgenreich von tausenden Plakatwänden blickt. Ihr Name ist Monika Schulz. Eine weder grimmige noch unbarmherzige Mitarbeiterin der BVG-Presseabteilung.

Seit 1978 verrichtet „die gute Seele der Abteilung“ ruhig und unauffällig ihre Arbeit. Bis an jenem Tag, als sie für knapp eine Stunde in die Uniform einer Politesse schlüpft. Den plötzlichen Star-Rummel lässt Frau Schulz geduldig über sich ergehen. Aber keinesfalls werde sie jemals wieder als Fotomodel vor die Kamera treten. Schon gar nicht als Politesse.


Auch andere Werbekampagnen der BVG – siehe Galerie am Ende des Artikels – erregen die Gemüter. Allen voran Schäferhundmischling „Elsa“, die für mehr Sicherheit in U-Bahnhöfen wirbt. Das 13 Wochen alte Hundebaby mit den lustigen Ohren erobert Presse und Publikum im Sturm. Flugs zum BVG-Maskottchen erhoben, prangt Elsa auf Regenschirmen, Socken und Fressnäpfen.

Das Plakat- und Anzeigen-Sujet „Abschleppwagen“ hingegen provoziert so manchen Bürger einen Brief an den Bürgermeister zu schreiben. Tenor: ein Angriff auf das demokratisch verbriefte Recht Auto zu fahren.

Eine durchweg positive Resonanz findet eine Postkarten-Kampagne für das Berliner Szene-Publikum. Die insgesamt 140.000 Karten, verteilt in Restaurants, Clubs und Bars, sind in wenigen Wochen vergriffen. Medien loben die „eigenwillige“ Aktion über die Vorzüge des öffentlichen Nahverkehrs als Kult.

Alle Kampagnen erscheinen in jenen wilden Jahren nach der Wende, die als Berlin Wonderland in die Geschichte der Stadt eingehen. Gemeint ist vor allem Berlin-Mitte. Von 1990 bis etwa 1997 tatsächlich der aufregendste Ort der Welt. Jedenfalls für all die Sinnsucher, Visionäre, Spinner, Künstler und Lebenskünstler aus ganz Europa, die den völlig heruntergekommen Stadtteil in einen gigantischen Abenteuerspielplatz der Subkultur verwandeln.

Sie besetzen Wohnungen, Ladenlokale und Kellergewölbe, betreiben dort Kunst jeglicher Art, eröffnen Galerien, Bars, Cafes und Speiselokale. Meist ohne Mietvertrag, Stromzähler und Lebensmittelinspektion. Schauplätze wie das „Tacheles“ werden zu Legenden. Aber auch einige der zahllosen, oft nur für kurze Zeit geöffneten Extravaganzen bleiben dem Besucher unvergesslich. Darunter die wunderbar skurrile „Wienerei“ des Schotten Daniel Jarman in der Veteranenstrasse.

Ein Stammgast der „Wienerei“ ist der in Dresden geborene Fotograf Joachim Donath. Er setzt Frau Schulz, Elsa und die anderen Motive in Szene –  so trocken wie lakonisch, so provozierend wie polarisierend, so geliebt wie bewundert.

Die Ideen und Texte, die Fotografie und die Bereitschaft des Auftraggebers grünes Licht zu geben. All das macht die BVG-Werbung der Jahre 1995-97 auch zu einem Produkt aus dem Berlin Wonderland. Einer einzigartigen Zeit, in der ein wenig Anarchie in der Luft lag und so manches möglich war. Unter anderem eine „fiese Politesse“ als Werbeikone.

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