Mondscheinbrüder, Heiterkeit und der Postmeister von Bombay

Drachenwand Mondsee, 2016

© Heinrich M. Schmid – Mondsee mit Drachenwand

Sommer 1879. Wie schon die Jahre zuvor, treffen sich einige Studenten am Mondsee zum gemeinsamen Ferienvergnügen. Es ist die so genannte „Mondscheinbruderschaft“. Eine illustre Schar von Freigeistern und Bohemiens, zu deren Mitgliedern auch Bruno Reiffenstein und sein Bruder, der spätere Landschaftsmaler und Schüler von Hans Makart, Leo Reiffenstein gehören.

Die öffentliche Badestelle am Mondsee ist damals das „Doktorbad“. Dort suchen die wohlhabenden Sommergäste Ruhe als auch Heilung indem sie ihre schmerzenden Körperpartien einer direkten Sonnenbestrahlung aussetzen. Nach strenger ärztlicher Verordnung nur 30 Minuten täglich. Länger gilt als ungesund.

Im Gegensatz dazu die Brüder und Maiden der Mondscheinbruderschaft. Hungrig nach endloser Sonne, Natur, Romantik und Abenteuer kann das Doktorbad für sie kein Ort des Vergnügens sein. Es muss ein eigenes Paradies gefunden werden. Ein Flecken Erde am See, so verborgen wie unberührt, so geheimnisvoll wie magisch.

Und tatsächlich. Die jungen Entdecker finden ein solches Paradies in Gestalt eines sanften Hügelzuges der zum Gut Wendt bei Sankt Lorenz gehört. Eine einsame Gegend, die sich bis an das Seeufer erstreckt. Umgeben von mächtigen Bäumen, urwaldgleichem Dickicht und hohem Schilf.

Auf der höchsten Stelle dieses Hügelzuges, dem Eschenhügel, wird unter einem alten Baumriesen der Versammlungsplatz der Mondscheinbruderschaft ausgerufen. Schon bald Bühne leidenschaftlicher Dispute und Gespräche über Philosophie, Kunst, Liebe, Gott, Kaiser und Vaterland. Es wird gesungen, getanzt und gelacht. Tagelang, nächtelang.

Allein, das gefundene Paradies braucht noch einen Namen. Der Mondscheinbruder Bruno Reiffenstein berichtet in seinen Erinnerungen:

„Es wurde vieles vorgeschlagen und wieder verworfen. Nichts wollte so recht passen. Endlich rief einer von uns aus: Halt, ich hab’s!: Haben wir nicht unentwegt gesucht und gesucht, wie Christopher Columbus, als er Indien zu finden meinte, haben wir nicht auch einen Christophorus in unserer Mitte, der uns so tapfer suchen half? Und ist es nicht ein herrliches Naturschauspiel, wenn sich die hohen Bäume unseres Landstriches pechschwarz vom glühend roten Abendhimmel abheben? So schlage ich vor, unser geliebtes Land „Schwarz Indien“ zu taufen!“

Gesagt, getan! Unter großem Jubel beschließt man eine Tauffeier – inszeniert als Inbesitznahme des „geliebten Landes“ a la Christopher Kolumbus.

Ein paar Tage später steuert eine Flotte von drei Booten über den Mondsee Richtung Eschenhügel. Das Flaggschiff, die Santa Maria, ausgestattet mit einem roten Segel. Nach erfolgter Landung beginnt auf dem Versammlungsplatz die Zeremonie. Eine selbst entworfene Landesflagge wird gehisst und eine Urkunde aus Pergament vorgelesen. Darauf festgehalten: der Name und die Besitzergreifung des Landstriches sowie die Namen aller beteiligten „Konquistadoren“. Laut Reiffenstein verfasst in einem ulkig grässlichen Gemisch von Latein und Mittelhochdeutsch.

Schließlich der Höhepunkt. Die Urkunde, die das Datum 11. August 1879 trägt, wird in einer Metallkassette feierlich vergraben. „Auf dass die Entdeckung von Schwarz-Indien im Salzkammergut für alle Ewigkeit erhalten bleibe“. Die Mondscheinbruderschaft und ihre Freunde sind glücklich. Noch, denn ihr geheimes Schwarz-Indien ist kein Geheimnis mehr.

Schon seit geraumer Zeit machen sich die Einheimischen über das merkwürdige, für nicht wenige auch sinnfreie Treiben der „Schwarzen Indianer“ auf dem Eschenhügel lustig. Nur einer nicht.

Der Mondseer Kaufmann Eduard Weyringer. Rühriger Vorsitzender des örtlichen Verschönerungsvereins, ungemein freundlich und zudem gesegnet mit einem unerschöpflichen Witze-Repertoire. Sein Markenzeichen ist indes nicht das Erzählen von Witzen, sondern das Wort „Heiterkeit“, dass er schelmisch jeder Pointe folgen lässt.

Entsprechend groß ist die Beliebtheit von Weyringer. Er wird sogar zur Personifizierung seines Lieblingswortes. „Wir kaufen bei Heiterkeit ein“ schallt es durch die Gassen von Mondsee.

Doch Weyringer ist nicht nur heiter. Er ist auch geschäftstüchtig. Die Geschichten um Schwarz-Indien findet er ganz wunderbar. Die reizvolle Gegend, der exotische Name. Weyringer wittert Potential und hat Pläne. Und die setzt er schnurstracks um. Für die Mondscheinbruderschaft wird das die Vertreibung aus dem Paradies bedeuten. Für Schwarz-Indien aber einen Aufbruch zu neuen Höhen.

Zunächst erwirbt Weyringer den Landstrich. Vermutlich für ein paar Kühe. Ist doch die verwilderte Gegend am See für den Wendter Bauern ohne großen Nutzen. Danach stellt er auf dem Eschenhügel eine Bank auf. Hinzu kommen Tische und noch mehr Bänke. Schließlich folgt ein Salettl über dessen Eingang „Jausenstation Schwarz-Indien“ prangt. Kredenzt werden Schwarz-Indischer Tee mit Kuchen und Bier mit Mondseer Käse.

Der Erfolg ist viel versprechend und erfordert weitere Maßnahmen zur Erschließung. Aus einem Trampelpfad von Mondsee nach Schwarz-Indien wird ein Wanderweg, wird ein Fuhrweg, wird eine Strasse. Eine Anlegestelle am Seeufer darf natürlich auch nicht fehlen.

Die beste Idee aber: Weyringer lässt wilde Tiere auf Holztafeln malen, ausschneiden und rund um seine Jausenstation aufstellen. Darunter ein Löwe, ein Tiger, ein schwarzer Elefant und eine phantastische Schlange. Alle in Lebensgröße und mit einem schaurig-schönen Ausdruck. Eine Attraktion mit durchschlagender Wirkung. Schwarz-Indien mausert sich zu einem nahezu legendären Ausflugsziel für die ganze Familie.

Weyringer empfiehlt seine Respekt einflössende Menagerie sogar als Erziehungsmaßnahme. Er dichtet: „Die Buben, die bösen, die schlecht schreiben und schlecht lesen und die, die Hosen zerreißen, die wird der Löwe beißen. Und die Mäderln, die schlechten, die sich die Zöpf nicht flechten, die sich die Kitteln zerreißen, die wird der Tiger beißen.“

Die Jahre vergehen und der König von Schwarz-Indien kann zufrieden sein. Aber es kommt noch besser, denn es kommt die Eisenbahn, die berühmte Salzkammergut Lokalbahn von Salzburg nach Bad Ischl. Unter der tatkräftigen Führung von Weyringer wird 1891 in Sankt Lorenz eine Haltestelle eingerichtet. Und nach heftigen Diskussionen sorgt Heiterkeit auch für den gewünschten Namen. Nunmehr ohne Trennung geschrieben: „Schwarzindien“.

Damit gelangt der Name nicht nur auf alle Fahrpläne und Kursbücher, sondern in die ganze Welt. Und dass nicht nur sprichwörtlich.

Man sagt, es war einer seiner glücklichsten Tage, als Weyringer um 1900 eine Postkarte aus Amerika erhält. Die Anschrift besteht aus drei Worten: Heiterkeit, Schwarzindien, Österreich.

Eine andere Post-Geschichte ereignet sich zwischen den beiden Weltkriegen. Eine in Schwarzindien lebende Baronin bekommt einen Brief nach langen Irrfahrten. Der Absender hatte als Adresse nur Schwarzindien angeführt und auf die Angabe seiner eigenen verzichtet. In Folge landet der Brief auf den Tisch des Königlich Britischen Postmeisters von Bombay.

Dies dürfte dem Mann einiges an Kopfzerbrechen bereitet haben. Doch er beginnt pflichtbewusst zu recherchieren. Ergebnis: „in ganz Indien gibt es kein Schwarzindien“. Aber damit nicht genug. Der Postmeister findet, auf welchen Wegen auch immer, eine gleichnamige Bahnstation in Österreich.

Mit den entsprechenden Vermerken gekennzeichnet kehrt der Brief zurück und gelangt schließlich doch noch in die Hände der verblüfften Frau Baronin – in Schwarzindien am Mondsee im Salzkammergut.

Herrn Weyringer alias „Heiterkeit“ hätte diese Geschichte sehr gefallen. Jedoch ereilte ihn Jahre zuvor bei einem Waldspaziergang ein letaler Schlaganfall. Als man ihn fand trug er nur eines bei sich: die Postkarte aus Amerika.

Epilog:

Nach dem ersten Weltkrieg entstehen in Schwarzindien, damals wie heute ein Ortsteil der Gemeinde Sankt Lorenz, die ersten Sommersitze vermögender Bürger. So auch an jener Stelle, wo einst die Jausenstation des Herrn Weyringer stand. In den späten 50er Jahren muss die reizende Villa auf dem Eschenhügel einem Neubau weichen, dem „Seehotel Schwarzinden“. Keine architektonische Augenweide. Aber immerhin bringt das Hotel etwas Leben in die selbst im Sommer betuliche Kolonie von Zweitwohnsitzen.

Berühmt ist vor allem die Hotelbar, ein plüschiger Traum aus dunkelgrünem Samt. Sie wird zum Tummelplatz allerlei Prominenz. Darunter Mitglieder der Schauspielerfamilie Hörbiger, die regelmäßig ihren Sommerurlaub in Schwarzindien verbringen. Leider ist der Glanz nicht von Dauer. Ende der 70er Jahre wird das Hotel geschlossen und zu einer Anlage mit Ferienwohnungen umgestaltet.

Heute ist Schwarzindien eine ruhige, im Winter regelrecht verträumte Wohngegend mit einem ebenso seltenen wie teuren Immobilienangebot.

Im Sommer jedoch, wenn der Wind durch die wenigen noch vorhandenen Baumriesen weht und die Sterne hell über den Eschenhügel funkeln, kann ein romantisch begabter Besucher einen Hauch von Kolumbus und Heiterkeit spüren – und sich darüber wundern, ob die Urkunde der Schwarzen Indianer immer noch unter der Erde ruht.