Von den Sehnsüchten der Amerikaner in den 50er Jahren
Ende November 1952 erscheint in Amerika ein Weihnachtslied über einen Jungen, der am heiligen Abend die Treppe hinunter schleicht, um einen Blick auf die Geschenke zu erhaschen. Doch er bekommt etwas ganz anderes zu sehen.
Das von dem 13 Jahre alten Jimmy Boyd gesungene Lied steht nach einer Woche auf Platz eins der Hitparade – und danach genauso schnell auf dem Index zahlloser Radiostationen. Der Titel lautet: I Saw Mommy Kissing Santa Claus.
Zu Beginn denkt offenbar niemand Böses. Aber dann melden sich die Kirchenfürsten, allen voran der Erzbischof von Boston, die einen Angriff auf Sitte und Moral wittern. Die Wogen glätten sich erst, als der kleine Jimmy Boyd persönlich dem Erzbischof versichert, dass Santa Claus im Lied kein Fremder, sondern der Papa und Mamas Ehemann sei.
Der amüsante Vorfall ist damals eine todernste Angelegenheit. Denn er betrifft das Heiligste jener Zeit: „The Nuclear Family“ – die Kern- oder Kleinfamilie, bestehend aus Vater, Mutter und mindestens 2 Kindern.
„The Nuclear Family“ ist der Amerikanische Traum der 50er Jahre. Die heile Welt einer vorwiegend weißen Mittelschicht mit strikt konservativen Werten und Normen. Vater ist der Boss. Danach kommen Mutter, Geschirrspüler und Mikrowelle. Wer oder was das vermeintliche Idyll stört wird ausgegrenzt, zensuriert, verfolgt. Getrieben von einer bisweilen an Hysterie grenzenden Angst vor Kommunismus, Sexualität und Bürgerrechtsbewegungen.
Für Individualität und persönliche Entfaltung ein denkbar ungünstiges Klima. Nicht aber für die Sehnsucht nach einer Welt, in der man ungestraft von Freiheit, Lust und Abenteuer träumen kann. Und so verlieben sich die geplagten Amerikaner nahezu unsterblich in jenes Paradies, das Europa schon im 18. Jahrhundert elektrisierte: die tropischen Inselwelten von Hawaii und Polynesien. Bevölkert von edlen Wilden, die scheinbar ohne Mangel, Zwist und sexueller Gebundenheit unter wogenden Palmen leben. Umgeben von magischen Figuren aus Stein und Holz zur Huldigung ihrer Götter und Ahnen – den so genannten „Tikis“.
Unter dem Slogan „Bring Paradise Home“ wird daraus eine Modewelle, die alle Kategorien sprengt: Tiki Culture. Der Fantasie sind dabei keine Grenzen gesetzt, Hauptsache irgendwie Südsee. Tiki-Restaurants und Tiki-Bars schießen wie exotische Pilze aus dem amerikanischen Boden. Aus der Tiki-Küche kommen Crab Rangoon und Rumaki – von der Tiki-Theke Mai Tai und Tonga Punsch. Natürlich serviert in Tiki-Bechern.
Aber auch im Vorstadt-Bungalow tobt das tropische Lebensgefühl. Dafür sorgen Hawaii-Hemd, Aloha-Kleid, Tiki-Tapete, Muschelvorhang und eine schicke Bambus-Bar im Hobbykeller. Millionen verfolgen im Fernsehen die Kon-Tiki Abenteuer von Thor Heyerdahl und verschlingen die Südsee-Bücher von James A. Michener. Den frenetisch gefeierten Höhepunkt erlebt Tiki Culture 1959, als Hawaii zum 50. Bundesstaat der USA wird.
Die Hauptprotagonisten sind indes Hollywood und die Musikindustrie. Sie befördern das Publikum in den Südpazifik und überall dorthin, wo es sexy Eingeborene und einen Dschungel gibt. Ob Kannibalen-Insel, die Anden, Afrika oder Indien – Tiki Culture kennt keinen Unterschied.
Entsprechend fantastisch ist der Tiki-Sound. Eine Kreuzung von Latin-Jazz, exotischer Schlaginstrumente und rituell-ekstatischer Gesänge. Ein früher Meister ist der Bandleader Xavier Cugat. Sein „Jungle Rhumba“ aus dem Film Neptuns Daughter von 1949 vereint die akustischen und optischen Quintessenzen:
Aus dem Tiki-Sound erwächst ein ganzes Musik-Genre. Benannt nach dem 1957 veröffentlichten Album Exotica von Martin Denny, gemeinsam mit Les Bexter der führende Interpret des Genres. Berühmt auch deshalb, weil er den Dschungelsound durch Primaten-Gebrüll und Vogel-Gekreische verdichtet. Der einzige weibliche Superstar ist die „Anden-Lunge“ Yma Sumac, deren Stimme nicht weniger als fünf Oktaven umfasst.
Ritual of the Savage, Primitiva, Taboo, Provocatif, Macabre, Legend of the Sun Virgin – die Liste der Produktionen ist endlos. Zumal Exotica neben dem klassischen Dschungelthema auch den gesamten Orient musikalisch exploriert. Dabei entstehen immer gewagtere Klangwelten. Zu hören etwa auf dem Album „Orienta“ von The Markko Polo Adventures. Die Band, ein Kollektiv der besten Exotica-Musiker, kombiniert Orient und Okzident zu einem psychedelischen Hör-Erlebnis. Kurz: Kung Fu trifft Hilly Billy.
Am anderen Ende des Exotica-Spektrums findet sich wiederum Musik, die regelrecht authentisch klingt. Zum Beispiel auf dem Album „Port Said“ von 1957. Der aus dem Libanon stammende Tenor Mohammed El-Bakkar lässt die Sofa-Reisenden Amerikaner von Tausendundeine Nacht und üppigen Bauchtänzerinnen träumen. Der enorme Erfolg gerade solcher Werke ist erstaunlich.
In Summe ist Exotica ein hoch-professionelles Fantasieprodukt, dass die Vorstellung des Durchschnittsamerikaners von fremden Ländern und Kulturen bis in die frühen 60er Jahre prägt. Davon ausgenommen sind die Kinder der „Nuclear Families“. Ihre Sehnsüchte und Träume führen weder in die Tropen noch in den Wüstensand, sondern zu Sexueller Revolution und Rock ’n‘ Roll. Exotica und Tiki Culture werden nicht mehr gebraucht. Sie verblassen zu skurrilen aber unsterblichen Relikten einer anderen Zeit.
Hörproben: Exotica, Yma Sumac, Orienta, Port Said